Berlin – Im Angesicht des Marathons

.. oder “Ein Marathon mit Hirschgeweih”
Indianische Medizinmänner und germanische Schamanen sollen ja die Fähigkeit besessen haben, sich in Tiere zu verwandeln. Diese Zauberstückchen findet man ja in vielen Märchen wieder, ob bei Sindbad dem Seefahrer, oder in der Welt von Star Trek. Ich habe es bei dem letztwöchigen Marathon auch zum Hirsch geschafft! Ganz ohne Zauberei, aber alles der Reihe nach ….

Generalprobe

Noch vier Wochen bis zum Marathon. Bei der Berliner Generalprobe oder auch Sportcheck Halbmarathon und ich laufe so wie gewünscht sub1:30. Diese Probe 4 Wochen vor dem wichtigsten Rennen des Jahres, dient ja dazu die anvisierte Zielzeit für den Marathon zu überprüfen und zu justieren.
Wie sollte ich also planen? Das Performance Predictor Plugin meiner Sporttracks Software sagt im hyperoptimalen Fall nach dem Modell von Dave Cameron eine Zeit von 3h08 voraus nach dem Modell von Pete Riegel sogar eine Zeit von 3h04! WOW, HEFTIG denke ich mir, werde aber daran erinnert, dass diese Modelle von Weltklasse Athleten und optimalen Bedingungen ausgehen und nicht von mir, Raucherlunge Milosz im zweiten Trainingsjahr, ohne jahrelanges Höhentraining in Kenia oder Äthiopien. Auch wenn ich in diesem Jahr eine recht beachtliche Laufleistung von 2900km hinter mich gebracht habe. Damit bin ich sogar mehr Distanz gelaufen als ich mit meinen beiden Motorrädern gefahren bin.
Letztes Jahr 3h39 also …ja, eine 3h15 wäre doch super. Das ist die Qualifikation für die Mutter aller Marathons in Boston für meine Altersklasse. Auch wenn sie dafür wohl nicht verwendet werden könnte. Irgendwo hab ich gelesen, dass erst Läufe nach September für den Boston Run im April gewertet werden. Und unter 3:24 müsste ich dann auf jeden Fall bleiben. Dies ist die Zeit die mein Alter Herr in meinem Alter in Berlin vor fast dreißig Jahren gelaufen ist -übrigens auch als aktive Raucherlunge. Und die sub3h30 ist eigentlich eh schon obsolet. Also eine neue Bestzeit wird es auf jeden Fall. Dementsprechend entspannt gehe ich also die verbleibenden 4 Wochen an. In der vorletzten Woche noch zu meinen Eltern ins Riesengebirge gefahren und meinen alten Herrn bei seinem siebentem Marathon in Wroclaw 35km als Wasserträger begleitet. Das war im Übrigen eine Hitzeschlacht vom feinsten! 32° Grad im Schatten als Spitzentemperatur! Jedoch war die Stecke, was Schatten angeht, dünn besiedelt. So kämpfte sich der alte Mann in beachtlichen 4h19 zum Ziel. Ich hatte auf diese Weise als Wasser- und Verpflegungskamel meinen letzten Langen 35er absolviert.

Kurze Karriere als Sportmodell für adidas!

 

Kurz vor der Abreise bin ich noch über einen Facebook Beitrag von Laufgott Achim Achilles gestolpert, der auf ein Projekt von adidas (einem der Hauptsponsoren des Berlin Marathon) hinwies. Sie suchen Läufer die Interesse daran haben, Ihre Angesichter während des Laufes filmen zu lassen, um die Emotionen und das Leid im Zeitraffer festzuhalten. Eine kurzes Formular auf der Projektseite (www.angesichtdesmarathons.de) ausgefüllt und dann hatte ich die Sache fast schon wieder vergessen. Umso schöner war es dann, als ich dann die Mail entdeckte, dass zu Probeaufnahmen kommen darf. Ein 50 minütiger Testlauf durch den Tiergarten im MRT zeigte mir dass es möglich sein müsste die Kamera zu ertragen ohne katastrophale Zeiteinbußen in Kauf nehmen zu müssen. Ich bekräftigte meinen Teilnahmewillen und durfte mir dann aus dem aktuellen adidas Katalog Laufbekleidung nach Lust und Laune auswählen. Zwei Laufshirts, zwei Shorts, Kompressionsstrümpfe und als Laufschuhe die adizero Boston. Haile ist ja da den Weltrekord gelaufen in dem Modell, auch wenn ich mir klar ist dass mein Schuh so ziemlich nichts mit dem zu tun hat den Haile läuft. Aber es kommt ja bei solchen Sachen ja auch auf die Symbolik an und adizero adios 2 (der Schuh des Siegers), hat mir absolut nicht gepasst.
Alles wurde vorab bestellt und konnte am Freitag, 9 Tage vor dem Marathon in der Werbeagentur abgeholt werden. Hoffentlich genug Zeit um die Schuhe einzulaufen. Bin auch direkt am Samstag noch ein sehr langsame 30ger Runde gelaufen. Die Schuhe empfand ich doch ziemlich als ungewohnt und vielleicht zu steif und stark gedämpft für einen Wettkampfschuh wie ich ihn gewohnt bin, auch nicht unangenehm. Für eine Langdistanz im flotten Tempo vielleicht auch ganz ok. Hab den Schuh vor dem Marathon insgesamt 70km eingelaufen, die letzten beiden Tage vor dem Wettkampf die Beine hochgelegt und war bis auf ein zwei Stunden auf der Messe am Tag zuvor ziemlich entspannt. Es war schon ein komisches Gefühl auf der Marathonmesse mein Gesicht und das der 20 anderen Läufer auf 3 Meter hohen Plakatwänden zu sehen. Ehrlich gesagt ich habe mich selber gar nicht erkannt am Anfang und dann auch ziemlich schnell von der Messe verschwunden. Alles nur unnötige Ablenkung und Aufregung. Und das wo ich doch normalerweise schon ziemlich mediengeil bin.

Der Tag X

Um 7:30 war Treffpunkt. Wir wurden von freundlichen adidas Mitarbeitern empfangen und in kleinen Gruppen zu den Kleiderzelten und dann zum adidas Zelt gebracht, wo uns die Kameras aufgesetzt wurden. Hier geschah also die Verwandlung zum Hirsch. Die adidas Mitarbeiter haben ständig gute Stimmung ala TSCHAKA verbrietet, die mir schon fast zu viel wurde. In meiner Gruppe waren wir zu dritt im Startblock E, also im Starterfeld für den ersten Startschuss. Wir haben uns aus Platzmangel an das Ende des Startblocks gestellt.
Und pünktlich ging es los. Das Wetter versprach sonnig zu werden, jedoch wohl nicht mit 32° Grad im Schatten. Langsam an das Ziel heran und nach 5 Minuten über die Startlinie. Blick auf den Rennplan, erster Kilometer langsam angehen mit 5 min/km, bis km 15 schrittweise schneller werden auf 4:35, 7km halten und dann wieder schrittweise langsamer werden auf 4:45. Insgesamt ein Schnitt von ~4:38 mit anvisierter 3h19 im Ziel.
Aber nach Plan laufen erweist sich schwerer als gedacht. Startblock E ist für Läufer zwischen 3h15 – 3:30 gedacht. Da ich hinten bin, muss ich ständig überholen. Um möglichst auf der Ideallinie zu bleiben muss ich dauernd Slalom laufen, und das mit dem Gestänge auf dem Kopf. Ich bin echt genervt und muss bei km 7 auch noch pinkeln. Bei der 10KM Marke zeigt meine GPS Uhr schon 10,5 km an. Um im Zeitplan zu bleiben bei dem Gedränge, muss ich ja eigentlich Tempowechselläufe machen. Wenn Platz ist anziehen, und dann hängt man irgendwo fest. Bei km 15 merke ich die Schuhe fangen an zu drücken. Ist doch etwas anderes einen Langen im Wohlfühltempo zu machen, als 15 im Renntempo im Slalom. Auf dem Weg zum Hermannplatz, geht es über eine kleine Brücke die etwas erhöht ist zur Straße. Was für ein ANBLICK! Eine kilometerweite nicht enden wollende Masse an Läufern. Da die Sonne knallt halte ich bei jedem Wasserstand und nehme was ich kriegen kann. Danach wieder ein bisschen Tempo anziehen um den Kilometer in den Plan rüber zu retten.

Ich denke eigentlich nur: Nicht aufregen, ruhig bleiben, keine Energie verschwenden, warte auf den meditativen Tunnel, den Runner’s High, der Dich ins Ziel trägt…. Aber er kommt nicht. Was kommt ist ein eine leichte Verkrampfung der hinteren Gesäßmuskulatur rechts. Wegdenken, das Ding!
Andere Läufer wollen mit mir gratulieren zum Gestänge auf dem Kopf, manche wollen sich beim Laufen irgendwie mit mir fotografieren lassen übers eigene Handy oder sie versuchen in das Kamerafeld meiner Kopfkamera zu schlüpfen indem sie an mich ran laufen, von der Seite oder von Hinten. danke das Sie mir grade auf den Hacken getreten haben….
KM20 Gel nehmen, ich spüre die Wirkung des Gels 500m lang und dann krieg ich wieder schlechte Laune. Ein Italiener umarmt mich, weil er mit der gleichen Kamera läuft wie ich sie im Gestänge habe. Ich mein, ich sehe bestimmt schon komisch aus mit dem Gestänge auf dem Kopf, aber ein Typ der mit ausgetreckter Hand läuft und dabei in seine Kamera grinst und Grimassen schneidet. Der muss zu viel la dolce vita gehabt haben. Du hast auf jeden Fall den Hauptpreis des Tages gewonnen, denke ich mir.
Die Schmerzen im Gesäß und in den neuen Schuhen werden immer größer, aber ich laufe ja nicht Marathon um Schmerzfrei zu sein. Schmerz ist relativ, man kann ihn wegdenken indem man das Bewusstsein mit positiven Dingen füllt. Kein Platz lassen für das Schmerzempfinden. Aber wo krieg ich bei km 30 was positives her. Jetzt werde ich ja langsamer, ich werde hier und da überholt. Ich versuche wieder mediengeil zu werden und lächele so viel ich kann in die Kameras der Streckenfotografen. Die Sprüche der Zuschauer über meine tolles Hirschgeweih hör ich noch kaum. Ich schlepp mich von Wasserpunkt zu Wasserpunkt, das Leid wird immer größer. Der Schnürsenkel geht ntürlich auch noch auf, was für ein Anfängerfehler. Ab Tauenziehen bei km35 läuft man hauptsächlich in der Sonne, und wie nach Buch baue ich massiv ab. Hier war ja das Training früher zu Ende. Den Plan kann ich jetzt vergessen. Mein Kopf hängt immer öfter nach unten von der jetzt tonnenschweren Kamera, die auch noch permanent verrutscht. Bei den Wasserstellen gehe ich immer öfter. Potsdamer Platz sehe ich irgendwo ein paar adidas Mitarbeiter die meinen Namen rufen, habe ich da grade wirklich noch gelächelt. Das Ziel ist nicht fern, hab ich mich letztes Jahr auch so schlecht gefühlt hier. Französischer Dom, haben sie grade frisch geteert da, oder warum kleben meine Füße auf der Straße fest. Jeder Meter wird direkt empfunden, in den Beinen und im Rücken und im Nacken und und und … da ist da Brandenburger Tor. Ich spreche einem anderen Läufer Mut zu, der 500m vor dem Ziel stehen bleibt und nicht mehr weiter will. Ich reiche ihm die Hand und will ihn ins Ziel schleppen. Aber das geht grad mal so 5 Meter lang, dann schüttele ich ihn von mir, und jegliches Mitgefühl für ihn weicht wieder von mir. Auf den letzten Metern bin ich doch wieder Egoist, hab keine Kraft Mutter Theresa zu spielen. Gleich Zieleinlauf, die letzten Meter… bin ich etwa schneller geworden? Im Ziel möchte ich weinen. Aber mir ist schlecht, man muss mich stützen. Das mache ich nie w ieder! Die adidas Leute nehmen mir die Kamera ab, ich versuche positiv in die Kamera zu lächeln. Mir wird die Medaille umgehängt. Und schon jetzt weiß ich wieder: Die Welt ist schön! Alles wird gut! Ich liebe Euch alle! Und nächstes Jahr sehen wir uns wieder.

P.S.
Es hat in der Tat mit 3h26 auch zu einer neuen Bestzeit gereicht. Nächstes Jahr muss dann die 3h15 fallen. Und adidas hat mir ja schon den Startplatz fürs nächste Jahr gesichert. Im großen und ganzen: Danke für das tolle Erlebnis. Aber nächstes Jahr laufe ich nicht als Hirsch 🙂

Bookmark the permalink.

2 Responses to Berlin – Im Angesicht des Marathons

  1. M a r e k says:

    Milosz, trotz allem eine großartige Leistung! Mit dem Ding da auf dem Kopf hast du das doch alles prima bewältigt. Die 03:15 waren vielleicht etwas optimistisch, aber ich denke, wenn du so weiter machst, dann kannst du das nächstes Jahr durchaus packen. Glückwunsch und wir sehen uns spätestens 2012!

  2. Pingback: Über Schnürsenkel am Treppchen vorbeigestolpert - parkläuferparkläufer

Leave a Reply